Thorsten Geisler

Thorsten Geisler

Lesen lernen und Text verstehen

In diesem Aufsatz sollen die Vorgänge, die beim Lesen ablaufen beschrieben und erklärt werde. Sie wurden in zwei große Bereiche unterteilt. Der erste Teil befaßt sich mit den Vorgängen beginnend mit dem Einlesen bis zu dem Zeitpunkt an dem der Buchstabenfolge eine Bedeutung entnommen wurde. Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Sinnentnahme aus ganzen Texten. Hier werden als kleinste Einheiten Sätze betrachtet und wie sie untereinander in Beziehung gestellt werden.

Physiologische Abläufe beim Lesen

Das Auge spring beim Lesen in Abständen von etwa 200 Millisekunden von einem Punkt zum nächsten. Diese Sprünge werden als Skkaden bezeichnet. Informationen können nur in der Zeit zwischen den Sprüngen, die Fixation genannt wird, eingelesen werden. Die Anzahl der Fixationen pro Zeile variiert zwischen zwei und zwanzig. Bei einem schwierigen Text werden mehr Fixationen gemacht, die auch länger dauern als bei leichten Texten, aber es wird auch häufiger zurück, zu schon mal fixiertem, gesprungen. Es kann auch nur eine sehr begrenzte Menge an Buchstaben neben dem Fixationspunkt wahrgenommen werden. Überschlagen kann man bei der Annahme von 4 Fixationen pro Sekunde und 3 Wörter pro Fixation, kommen wir auf 700 Wörter pro Minute. Die Tatsächliche Rate liegt aber zwischen 200 und 400. Demnach ist die anschließende kognitive Verarbeitung der begrenzende Faktor beim Lesen.

Worterkennung

Wie die Worterkennung abläuft ist am Beispiel des Lesenlernens am besten zu verdeutlichen. Zuerst muß eine Relation zwischen dem Bild des Buchstabens (Graphem) und einem Laut (Phonem) hergestellt werden. Das Kind muß erkennen, daß durch die einzelnen Laue, die in Zusammenhang mit den Buchstaben gelernt werden, auch die Worte gebildet sind. Es muß aus dem Gehörten auch einzelne Laute extrahieren können. Als nächstes müssen die einzelne Laute zu Worten verschliffen. Das geschieht indem ein Laut ausgesprochen und gehalten wird bis der nächste gelesen ist und ausgesprochen werden kann. Das Verschleifen der Laute wird durch üben verbessert. Verschlußlaute wie b, d, g, k, p, t bereiten zusätzlich Schwierigkeiten, da hier der nächste Buchstabe gelesen werden muß bevor der Verschlußlaut mit dem Nachfolger zusammen ausgesprochen werden kann. Ab diesem Zeitpunkt kann eine Buchstabenfolge mit einem Phonetischen Wort und seiner Bedeutung in Verbindung gebracht werden. Durch üben werden häufig gelesene Wörter in ein Lexikon abgelegt, in dem die Buchstabenfolgen mit ihrer Lautbild und dem semantischen Kontext abgespeichert werden. Dieses Lexikon wird als visuelle Worterkennung beschrieben. Sie umfaßt zu Beginn des Lesenlernens nur sehr wenige Wörter, wird aber mit der Zeit immer größer, so daß später nur noch wenige Worte lautierend gelesen werden müssen. Lautieren Lesen bedeutet, daß die Buchstaben einzeln in Laut umgewandelt werden müsse um so das Wort zu erfassen. Man spricht auch von phonologischem Zugang. Der Weg der visuellen Worterkennung wird immer effizienter, allerdings kann aber immer auch der Weg über die Phonem-Graghem-Zuordnung, als der phonologische Zugang gewählt werden z.B. bei Medikamentennamen. Coltheart et al. entwarf 1993 ein Modell, das die beiden Zugangsweg zur Worterkennung beschreibt. Dabei schließt sich an das Visuelle Worterkennen ein Semantisches Lexikon und ein Aussprachelexikon. Das Semantische Lexikon überprüft anhand der ersten Buchstaben eines Wortes und des semantischen Wissens das richtige Wort. Das Aussprachelexikon ist beim Vorlesen von Bedeutung, da hier die Verknüpfung zwischen dem Wort und seines Lautmusters erfolgt.

Texterschließung

propositionale Texterfassung

Beim dieser Art des Textverstehen werden semantische Einheiten gebildet, diese werden Propositionen genannt. Diese Idee lehnt sich an die Prädikatenlogik an. Ein Satz wird in eine Struktur mit einem Prädikat (meist Verb des Satzes) und Argumenten, die ihrerseits Prädikate sein können oder in einer Subjekt Objekte Beziehung zum Prädikat stehen, übertragen. Diese Prädikate werden über Kohärenzrelationen mit einander verknüpft. Ist eine Verknüpfung einer neuen Proposition nicht möglich muß eine Inferenz gebildet werden. Inferenzen sind Hilfspropositionen, die aus dem Vorwissen des Lesers generiert werden. Diese Art der Texterfassung hat einen geringen Verarbeitungsaufwand.

holistische/ ganzheitliche Texterfassung

Beim Lesen des Ersten Satzes eines kontinuierlichen Textes wird eine Situation gesucht, in der die Information des ersten Satzes plausibel ist, es wird ein mentales Modell angelegt. Das von Anfang an einen ganzheitlichen Charakter hat, auch wenn Details noch nicht bekannt sind. Der Vorteil des mentalen Modells ist, daß nicht nur explizite Information des Textes zur Verfügung steht, sondern auch implizites, das der Schreiber bewußt oder unbewußt ausgelassen hat. Es werden nicht nur nötige Inferenzen wie beim obigen Modell angelegt, sondern noch zusätzliche, beispielsweise bei einer Reihe von Vergleichen werden zusätzlich die transitiven Beziehungen als nicht notwendige Inferenzen in das Modell eingegliedert, dadurch kann auf implizite Daten schneller zugegriffen werden. Die Inhalte der nachfolgenden Sätze werden in das mentale Modell integriert und evaluiert. Dabei wird geprüft ob das Modell mit dem Text übereinstimmt, ob annahmen und ihre Konsequenzen plausibel sind und ob das Modell Vollständig ist. Lassen sich viele Textdaten und Vorwissensinformationen nicht verbinden, wird das Modell unstrukturiert, damit Text und Vorwissen zusammenpassen. Das wird an folgendem kurzen Text von Collins, Brown und Larkins aufgezeigt:

Er legte an der Kasse 5,-$ hin. Sie wollte ihm 2,50$ geben, aber er weigerte sich, sie zu nehmen. Deshalb kaufte sie ihm, als sie hineingingen, eine große Tüte Popcorn.

Man stellt sich beim ersten Satz eine sehr allgemeine Verkaufssituation vor, bei der eine "sie" einen "er" abkassiert, und wundert sich warum "er" das Wechselgeld nicht annehmen will. Der dritte Satz macht dann sehr große Probleme. Warum gehen sie gemeinsam ins Theater oder Kino, wenn sie die Kassiererin ist? Dann erkennt man den Irrtum und baut das mentale Modell um: Sie ist seine Begleiterin und bedankt sich mit dem Popcorn für die Einladung. Die Assoziation "Kino - Popcorn" aus dem Vorwissen wird als zusätzliche Inferenz in das Modell eingegliedert und der Leser hat sich die Frage nach dem "wo" der Situation beantwortet.

Ein Experiment von Bryant und Trabasso und später von Trabasso et al. entwickelt und ausgeführt wurde könnte auch Anhaltspunkte liefern in welcher Weise das mentale Modell repräsentiert ist. Ist es in einer diskreten oder analogen Form gespeichert? In diesem Experiment gibt ein Text Längenverhältnisse verschiedenfarbiger Stöcke wie folgt wieder:

Der gelbe Stock ist länger als der grüne Stock. Der blaue Stock ist länger als der weiße Stock. Der grüne Stock ist länger als der blaue Stock. Der weiße Stock ist länger als der rote Stock.

Durch diese Beschreibung läßt sich mental eine lineare Abfolge der Größenverhältnisse bilden. Die Versuchspersonen sollten diese Reihenfolge lernen um anschließend Fragen über implizite und explizite Größenverhältnisse zu beantworten, z.B. sollten die Frage "ist der gelbe Stock länger als der Weiße Stock" beantwortet werden. In einem proporitionalen diskretes Modell müßten mehr Zeit benötigt werden je weiter die Stöcke auseinander liegen, oder anders formuliert je mehr transitive Beziehungen (Inferenzen) benötigt werden, desto länger müßte die Antwortzeit sein. Falls alle Interferenzen beim Lesen erzeugt würden müßte die Antwortzeit immer gleich sein. Das Experiment zeigt, daß Fragen, die sich im bezug auf die Größenverhältnisse auf weit entfernte Objekte, schneller beantwortet wurden als die expliziten Verhältnisse. Das läßt auf eine analoge Form des Modells schließen, da diese Beziehung den Erfahrungen mit realen Objekten entspricht.

Zusammenwirken der beiden Strategien

Die propositionale Repräsentation und das mentale Modell ergänzen sich. Der Aufbau des Propositionsmodell ist sehr schnell und spiegelt die Linguistische Struktur der Textes gut wieder. Dieses Modell eignet sich für genaues Wiedererkennen und Wiedergeben des Textes. Ist aber nicht für langfristiges Speichern geeignet und dient als Basis zur Bildung des mentalen Modells. Der Aufwand das mentalen Modells zu erstellen ist wesentlich höher als beim propositionalen Modell. Es enthält keine linguistischen Informationen kann aber besser gespeichert werden. Dafür sind im mentalen Modell auch implizite Informationen der Textes enthalten, da diese nicht explizit kodiert werden müssen sondern am Modell abgelesen werden können. Diese Annahmen lassen sich scheinbar an einem Experimenten von Johnson-Laird bestätigen. Versuchspersonen in zwei Gruppen unterteilt, denen je ein Texte vorgelegt wurde, in denen Raumbeziehungen verschiedener Gegenstände beschrieben wurden.

Wie z.B. in Text 1: Der Löffel liegt links vom Messer. Der Teller liegt rechts vom Messer. Die Gabel liegt vor dem Löffel. Die Tasse vor dem Messer.

Und Text 2: Der Löffel liegt links vom Messer. Der Teller liegt rechts vom Löffel. Die Gabel liegt vor dem Löffel. Die Tasse vor dem Messer.

Danach sollten die Personen entscheiden welche Bilder die richtige räumliche Anordnung der Gegenstände zeigte und es sollten Originaltext, ein semantisch richtige Text und eine semantisch falscher Text, der Ähnlichkeit zum Original nach sortiert werden. Der eine Text beschrieb eine eindeutige räumliche Ordnung (Text 1), der Vergleichstext 2 ließ zwei räumliche Varianten zu. Es dürfe also eigentlich nur bei Text 1 sinnvoll sein ein mentales Modell anzulegen. Bei dem anderen wäre es besser nur das propositionale Modell anzulegen, da sonst eine der beiden Varianten nicht berücksichtigt würden. Wurde die erste Textvariante gelesen, konnten die Versuchspersonen wesentlich besser die falsche Version im Test ausschließen als die Kontrollgruppe mit dem zweideutigen Text. Allerdings konnte die Kontrollgruppe besser die linguistische Struktur erkennen, das heißt der Originaltext wurde signifikant öfter erkannt.

Legasthenie - Fehlleistung bei der Worterkennung

Die Legasthenie läßt sich in drei Arten untergliedern. Diese Arten der Legasthenie können alle bei Kindern in der Lernphase auftreten, sie können aber auch durch Schädigung des Gehirn entstehen.

Bei der Oberflächenlegasthenie wird die Graphem-Phonem-Korespondenz beherrscht, aber es wird nicht auf das visuelle Worterkennen zurückgegriffen. Gründe könnten in einer Störung betroffener Gehirnbereiche liegen, oder in einer falschen Lernstrategie, bei der überproportional dem phonologischen Zugang vertraut wird. Deshalb werden die Anfangsschwierigkeiten beim Zugriff auf das Lexikon nicht überwunden und es fällt schwer neue Einträge in das Lexikon zu generieren, da das lautierende Lesen nicht in Einklang mit der sonstigen Sprache gebracht werden kann. Diese Form der Legasthenie ist nach Prior et al. eine zeitweise Anomalie in der normalen Leseentwicklung. Diese Form der Legasthenie kann das Kind selbst überwinden. In einigen Fällen muß das Kind aber auch über spezielle Maßnahmen unterstützt werden.

Bei der phonologische Legasthenie wird die Graphem-Phonem-Korespondenz nicht beherrscht, aber der Zugriff auf das semantische Lexikon funktioniert. Kennzeichnend ist, daß Pseudowörter nichtgelesen werden können. Nach Coltheart könnte es sich um eine Störung im Sprachbereich des Gehirns handeln.

Die Tiefenlegasthenie ist eine phonologische Legasthenie mit einer partiellen Oberflächenlegasthenie. Da die Graphem-Phonem-Korespondenz nicht beherrscht wird versuchen die Betroffenen über den lexikalischen Zugang, anhand der Angangsbuchstaben ein passendes Wort zu finden. Da aber die semantische Prüfung die Eintage nicht reduzieren kann werden häufig die falschen Worte ausgewählt. Die betroffen merken nicht einmal, daß das gelesene keinen Sinn ergibt. Katz et al. vermutet, daß das semantische System nicht normal angesprochen werden kann. Buxbaum et al. ist der Meinung, daß zwar neue Wörter in den lexikalischen Zugang aufgenommen werden können, aber die Nutzung nicht möglich ist. Außerdem scheinen verschiedene Gruppen von Wörtern stärker präsent zu sein als andere. Konkrete Substantive wie Baum, Tisch, Hund werden leichter erkannt als abstrakte Substantive wie Ehre, Gesundheit, Trauer. Danach kommen Verben und Adjektive. Zuletzt kommen Funktionswörter wie sonst, aber, bis, die.

Zu diesem Punkt hat Ronald Davis einen interessanten Ansatz entwickelt. Dabei sollen die Betroffenen schwer zu lernende Wörter z.B. aus dem Funktionswortbereich mit Knettmasse nachbilden. So werden mehrere Sinne angesprochen und wahrscheinlich läßt sich dadurch das gelernte Wort besser ins Lexikon integrieren. Nach der Theorie von Davis wenden Legastheniker beim Lesen eine Strategie an die in diesem Kontext völlig sinnlos ist. Kann ein Kind einen Gegenstand nicht Einordnen, so beginnt es diesen Gegenstand vor seinem geistigen Auge so zu drehen, bis er identifiziert werden konnte. Es wäre sicher auch interessant zu überprüfen ob die Theorie von Davis sich auch auf des Textverstehens anwenden läßt. Die Frage, wie sich das Textverständnis bei Personen mit einer Lese-Rechtschreibschwäche von den normalen Abläufen abweicht, Wäre sicher auch interessant zu klären. Vielleicht könnten dadurch auch Rückschlüsse auf das Textverständniss gezogen werden. Könnte durch das schlechte Erfassen von Funkionswörten die Bilung eines mentalen Modells beeinträchtigt werden?

Literaturverzeichnis

Heinz Mandl, Hans Spada: Wissenspsychologie 1988 München Weinheim

John R. Anderson: Kognitive Psychologie: eine Einführung 2.Aufl. 1989 Heidelberg

Werner Früh: Lesen, Verstehen, Urteilen

Bernhard Hofmann: Lese-Rechtschreibschwäche-Legasthenie- 1998 München

Ronald Davis: Legasthenie als Talentsignal 1995 Kreuzlingen