Essay von Raphael Wimmer
Seminar Mensch-Maschine-Interaktion WS 2003/04
Dozent A. Schmidt/H. Hußmann
LMU München
Als „Mausschubser“ bezeichnen Hardcore-Linux-User ihre Windows- und Mac-Kollegen. Für sie ist alles, was über die pure Kommandozeile hinausgeht das Werk des Teufels. Doch gerade wegen ihrer WIMP (Window, Icon, Menu, Pointing device oder auch Pull-down menu) – Oberfläche erleichtern Betriebssysteme mit graphischen Benutzeroberflächen (GUI – Graphical User Interface) dem Neuling die Einarbeit. WYSIWYG (What You See Is What You Get, d.h.. mein Text sieht in MS Word genauso aus wie gedruckt) ermöglicht erst viele Anwendungen wie CAD (Computer Aided Design), DVE (Digital Video Editing) oder 3D-Spiele. Aus diesem Grund gibt es auch für Linux seit geraumer Zeit grafische Oberflächen. GUIs haben viele Vorteile gegenüber textbasierten Applikationen. Durch das Konzept von Icons, Fenstern und Mauszeiger nähern sie die Welt im Computer an die reale Welt an. Durch den Verzicht auf Text zugunsten selbsterklärender intuitiver Schnittstellen können auch Computer-Analphabeten rasch mit einem Programm umgehen. Doch der weitgehende Verzicht auf Text nimmt teilweise groteske Formen an, wie z.B. im Web, wo manche (Flash-) Seiten auf textuelle Navigationsmenüs verzichten und dem Benutzer nur undefinierbare Icons zur Wahl anbieten.
Beispiel: http://www.radioqualia.va.com.au/forkingmap/index.html (Statusbar-Titel über JScript funktioniert auch nur im IE)
Der Trend im Bereich HCI (Human Computer Interaction) geht eindeutig weg vom Text, hin zur bildlichen Darstellung von Zuständen, Zusammenhängen und Zielen. Es stellt sich aber die Frage, ob die radikale Ent-Textualisierung von Benutzerschnittstellen nicht auch Nachteile hat.
So waren denn auch die Kommandozeilen eines Unix oder MS-DOS ein gewaltiger Fortschritt im Bereich HCI. Der Benutzer sah zum einen, was er selbst eingetippt hatte. Zum anderen konnte der Rechner den Benutzer über den aktuellen Programmzustand informieren, Zwischenergebnisse anzeigen oder auch Benutzereingaben anfordern.
Die nächste Ebene stellten dann die GUIs dar. Frei nach dem Motto „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ ermöglichten diese gänzlich neue Formen der Informationsdarstellung und Kommunikation. Während unter DOS noch ein „Please wait…“ und eventuell ein rotierender Balken den Benutzer zum Betrachter degradierten, wechselt man unter Windows einfach in ein anderes Fenster. Kopiervorgänge werden durch fliegende Zettel intuitiv erklärt und zum Aufruf eines Programms muss ich nicht einmal wissen, wie es heißt. Ein Klick auf die braune Uhr und Outlook erscheint.
Computer: Vor dir siehst du einen Ork. Willst Du ihn angreifen(1) oder dich vorbei schleichen (2)?
Benutzer: 2
Computer: Der Ork sieht dich und erschlägt dich mit einer Keule. Du bist tot. Nochmal?
Diese rudimentären Kommunikationsmöglichkeiten wurden nach und nach ausgebaut, bis der Computer ganze Sätze verstehen konnte. Mit King’s Quest von Sierra betrat dann Anfang der Achtziger Jahre das erste grafische Adventure die Bühne. Die Befehle wurden zwar weiter mit der Tastatur gegeben („go to cupboard“), man konnte dann aber tatsächlich den jungen, noch etwas pixeligen Prinzen zum Schrank gehen sehen. Lediglich Dialoge und nicht sichtbare Informationen wurden als Textnachrichten ausgegeben („You hear a beautiful melody“). Als nächstes wurde die Texteingabe abgeschafft und durch Point’n’Click ersetzt. Aus Verben wie „Open“, „Push“ oder „Talk to“ und Gegenständen in der Szene oder dem Inventory wurde ein Befehl wie „give apple to grandfather“ zusammengeklickt. Die anklickbaren Befehle wurden über kurz oder lang dann auch durch Icons ersetzt. Die Verbreitung der CD-ROM ermöglichte es den Spieldesignern dann, die Dialoge der Darsteller auch als Audiospuren hinzuzufügen. Mitteilungen wie „You hear someone screaming“ erübrigten sich dank der Soundsamples ebenfalls. Heutige 3D-Adventures verwenden Text oft nur noch, um im Multiplayer-Modus dem Partner Nachrichten zu schicken.
Schrift speichert schon seit Jahrtausenden Wissen. Dabei ist sie sehr vielseitig und kann Poesie genauso wie technisches Wissen ausdrücken. Einige Einschränkungen hat Schrift aber, welche sie in manchen Fällen als Informationsträger ungeeignet macht:
kulturelle Gebundenheit
Texte können nur von Menschen verstanden werden, die deren Sprache mächtig sind. Das Wort „Notarzt“ verstehen weltweit wohl höchstens ein paar hundert Millionen Menschen. Das rote Kreuz auf weißem Grund ist weltweit bekannt.
Platzbedarf
Buchstaben brauchen Platz. Bei zu kleiner Schriftgröße leidet die Leserlichkeit. Gute Icons haben klare Strukturen, welche auch bei geringer Größe erkennbar sind. Auch ein rotes Kreuz von der Größe einerErbse ist noch zu erkennen. Der Text nicht ohne Lupe. Dies ist besonders im Zusammenhang mit der geringen Auflösung von Computermonitoren von Bedeutung.
Zeitbedarf
Die Zeit, welche man benötigt, um einen Text zu lesen, ist um ein vielfaches höher als das Erfassen von Symbolen. Auch das Suchen eines Begriffs in einem Text ist für den Menschen zeitaufwendig. Moderne Programme bündeln eine Vielzahl von Funktionen. Jede einzelne über einen Text-Button aufzurufen würde wohl kaum zur Übersichtlichkeit beitragen.
Auch heutige Computer haben Einschränkungen, welche das Lesen von Texten auf ihnen erschweren.
Auflösung
Selbst neueste Computermonitore bieten eine geringere Auflösung als physikalische Druckverfahren auf Papier. Dies beschränkt stark die Menge an Text, welche darstellbar ist.
Benutzerschnittstelle
Einschneidender ist jedoch der Mangel an einer Benutzerschnittstelle, welche mit dem Buch mithalten kann. Schnelles Nachschlagen „weiter vorn“, die Suche nach einem Bild oder der Vergleich zweier Textstellen sind bei E-Books nicht vergleichbar mit einem echten Buch.
Alle diese Einschränkungen führen dazu, dass Text am Computer sehr stiefmütterlich behandelt wird. Stellt dies jedoch tatsächlich einen Nachteil dar? Ist nicht der Verzicht auf Text ein Schritt hin zu einem intuitiveren Computer?
Diese „Häppchen-Aufbereitung“ findet sich auch bei Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Politik, ebenso in Hochschulen. Auch das World Wide Web ist ein Netz von Häppchen. Dies kommt dem Leser entgegen, welcher nicht einmal ganze Sätze aufnehmen muss.
Was den Leser Zeit spart, kostet den Ersteller jede Menge davon. Um seinen Text möglichst professionell aufzumachen, bemüht er sich stundenlang, Grafiken, Formatierungen und Textrahmen zu einer ansprechenden Gesamtkomposition zusammenzustellen. Kein Buch der Welt hat so viele verschiedene Schriftstile wie ein dreiseitiger Bericht an den Chef. Die Illusion, mit Cliparts etwas Sinnvolles zu tun ist weit verbreitet. Man vergeudet seine Zeit ja nicht, sondern macht etwas. Und wie heißt es so schön: „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“. Je ausgefeilter die Möglichkeiten werden, Inhalte zu gestalten, desto ausgefeilter wird dann auch gestaltet. Autorentools wie Flash geben auch den langweiligsten Inhalten eine ansprechende Form.
Diese Informationsabnahme fällt in unserer täglichen Informationsüberflutung allerdings kaum auf. Vielleicht verhelfen ja bessere Displays zu neuer Lust am Text. Und vielleicht gibt es irgendwann einen E-Book-Reader, mit einem User Interface, welches dem eines Buches nahe kommt. Bis dahin kann man sich damit trösten, dass der Comic, obwohl damals als Buchkiller verunglimpft , diese Befürchtungen nicht bestätigt hat und im Gegenteil Text und Bild zu einer neuen Kunstform verbunden hat. Bleibt zu hoffen, dass auch der (Hyper-) Text im Computer einmal die hohen Erwartungen, die in ihn gesetzt sind, erfüllt.