Richtlinien für das Lesen am Bildschirm

Ramon Schalleck

Einleitung

Nach einem langen Tag in der Arbeit war Herr K. froh, als er es sich endlich mit seinem Lieblingsbuch in seinem Sessel gemütlich machen konnte. Die Zeilen der Stelle, an der Herr K. gestern aufgehört hatte, leuchteten ihn aus dem Display seines Tablet-PCs an und schon nach kurzer Zeit war Herr K. tief in seine Lektüre versunken.
So hatten sich die Entwickler von Microsoft die Zukunft mit dem Tablet-PC vorgestellt. Nach der Eroberung des Büros und des Kinderzimmers sollte der PC nun auch den Siegeszug in den intimeren Gemächern der modernen Haushalte antreten. Doch der ersehnte Tablet-PC-Boom blieb bislang aus. Der Gesamtanteil am Notebookabsatz betrug 2003 nur 1-2% und Analysten rechnen nicht mit einer deutlichen Steigerung des Absatzes in den kommenden Jahren (Delbrouck, Dirk: Studie: Tablet PCs und Smart Displays helfen PC-Markt, http://www.zdnet.de/news/hardware/0,39023109,2133408,00.htm, 2003) .
Der Grund für die Zurückhaltung der Kunden liegt wohl einerseits an den hohen Kosten für den tastempfindlichen Flachbildschirm (im Jahre 2003 ca. 1000-1500€) mit kabellosem Internetanschluss über den heimischen Desktop-Rechner, als auch an der mangelnden Akzeptanz für das elektronische Buch. Die Skepsis gegenüber dem Text am Bildschirm scheint in der Star-Trek Welt von Übermorgen überwunden, in der heutigen Zeit, in der die Erwachsenen noch das Lesen mit Büchern aus Papier gelernt haben, fängt die Gewöhnung an das Lesen am Bildschirm erst langsam an. Laut Bundesregierung verfügt in Deutschland jede Schule über einen Internetanschluss (Bundesregierung: Gut-in-der-Ausbildung, 2003). Dadurch wird das Lesen am Bildschirm für die nächste Generation selbstverständlich sein. Und die Gegenwart, in der 10 jährige Kinder ihren Eltern das Internet erklären, lässt vermuten, dass in Zukunft das elektronische Buch auch in der breiten Masse akzeptiert wird.
Für die Marketingstrategen der Hersteller des Tablet-PC liegen die Vorteile für das elektronische Buch buchstäblich auf der Hand. Eine unbegrenzte Anzahl von Büchern stünde dem Benutzer zu jeder Zeit zur Verfügung. Der Gang zur Bibliothek, zum Bücherladen oder Kiosk würde sich erübrigen. Dass daran der Ärger bei der Neueinrichtung von High-Speed Telefonanschlüssen sowie die umständliche Konfiguration des Systems (der Tablet-PC muss am Desktop-Rechner eingerichtet werden) und der lästige Gang zum Service Point mit fehlerhafter Hardware verbunden sein könnte ist dabei nur ein kleines Hindernis. Auch die Skepsis gegenüber flimmernden Bildschirmen lässt sich nicht weiter aufrecht erhalten, denn beim Flachbildschirm (TFT-Display) entfällt das lästige Flimmern, da ein LCD-Pixel entweder an oder ausgeschaltet ist und die Frequenz der Hintergrundbeleuchtung bei mehreren Kilohertz liegt (im Vergleich zum Röhrenbildschirm 50-100Hz). Damit fällt ein wichtiger Faktor für die Verschlechterung der Lesbarkeit weg.
Um die Visualisierung als Faktor für die Beeinträchtigung der Lesbarkeit so gering wie möglich zu halten, wird in diesem Text untersucht, wie die typographischen Merkmale optimiert werden können. Wie soll der Text am Bildschirm dargestellt werden? Welche Schriftart, Buchstabengröße, Zeilenlänge und Zeilenabstand eignen sich am besten zum Lesen? Wie funktioniert Lesen eigentlich? Was ist der Unterschied zwischen dem Lesen am Bildschirm und dem Lesen von bedrucktem Papier? Und nicht zuletzt: Kann der Tablet-PC das Buch ersetzen? Diese Fragen sind das zentrale Thema dieser Arbeit, die im Rahmen des Hauptseminars "Mensch Maschine Interaktion" im Wintersemester 2003/04 entstand. Betreut wurde das Hauptseminar von Prof. Heinrich Hußmann und Dr. Albrecht Schmidt.

Der Prozess des Lesens

Was ist Lesen?

Der Prozess des Lesens ist sehr komplex. Hinter der folgenden Definition von D.C. Mitchell (Mitchell, D.C.: The Process of Reading, John Wiley & Sons Ltd., 1982, Seite 5) steckt bereits viel mehr als uns beim täglichen Lesen bewusst ist: "Reading can be defined loosely as the ability to make sense of written or printed symbols. The reader uses the symbols to guide the recovery of information from his or her memory and subsequently uses this information to construct a plausible interpretation of the writer`s message."
Allerdings kommt es beim Lesen nicht nur auf den Inhalt des Textes, sondern auch auf die Art ihrer Visualisierung, das Design, an. Eine schlechte Visualisierung kann das menschliche Gehirn so mit zusätzlicher Arbeit des Entzifferns beschäftigen, dass der Prozess des Verstehens des Inhaltes in den Hintergrund rückt. Für das Lesen am Bildschirm ist die Visualisierung also sehr wichtig. Anderere Faktoren sind die Situation und die Intention. Die Situation des Lesens am Bildschirm unterscheidet sich von der Lesesituation mit einem Buch. An einem Monitor kann man zum Beispiel keine Seiten umblättern oder Eselsohren machen. Auch die Intention des Lesers desselben Textes kann unterschiedlich sein. Jemand der ein spannendes Buch liest will sich dabei auf die Handlung konzentrieren, während jemand der denselben Text laut vorliest auf ganz andere Dinge achten muss. Hier könnte der Tablet-PC unterstützend eingreifen, indem Visualisierungen an die Leseintention angepasst werden. So könnte der Buchstabenabstand und -größe fürs Vorlesen vergrößert werden, da vermutlich ein Augenkontakt mit dem Zuhörer zustande kommen soll und so die Wörter schneller wieder gefunden werden können (siehe Abschnitt "Welche Faktoren der Textdarbietung beeinflussen uns beim Lesen?"). Wie Lesen allgemein funktioniert wird im nächsten Abschnitt behandelt.

Wie funktioniert Lesen?


Stellen Sie sich vor Sie sitzen im Zug und schauen aus dem Fenster. Der Zug fährt gerade aus dem Bahnhof heraus und Sie versuchen die Gesichter der Zurückbleibenden Menschen zu erkennen. Während Sie von einem Gesicht zum anderen springen, sehen Sie gar nichts. Erst wenn Sie auf einem Gesicht fixiert sind, können Sie das Gesicht und sogar Dinge im umgebenden Bereich erkennen. Beim Lesen passiert etwas ähnliches. Das Auge springt von einem Fix-Punkt im Text zum nächsten. Die Punkte werden für etwa eine Viertelsekunde fixiert. Die Sprünge heißen "Sakkaden" und die Pausen "Fixation" (vgl. Mitchell, D.C.: The Process of Reading, Seite 6 und Ziefle, Martina: Lesen am Bildschirm, Waxmann Verlag GmbH, Münster, 2002, Seite 19). Die Sakkaden, bei denen das Auge an eine Stelle zurückspringt werden "Regressionen" genannt. Die Regressionen machen zwischen 10 und 30 Prozent der Sakkaden aus. Während der Sakkaden leidet der Leser unter der "saccadic suppreession", die das Aufnehmen von Informationen verhindert (siehe Beispiel mit dem Zug). Die Fixationen sind also für die Aufnahme der Information am wichtigsten.
Bei der Fixation nimmt das menschliche Auge eine kreisförmige Fläche war. Dieser Kreis wird abstandsunabhängig durch den Winkel des Kegels angegeben, der sich zwischen den Augen und der wahrnehmbaren Fläche ergibt. Um heraus zu finden, wie groß der Winkel dieses Kegels ist, wurden 1975 Untersuchungen von McConkie und Rayner am Bildschirm gemacht, wobei den Versuchspersonen ein Fixpunkt vorgegeben wurde, um den herum dann Text erschien. Ein Ergebnis dieses Versuchs war, dass Informationen, die sich rechts vom Fixpunkt befanden besser aufgenommen wurden als links vom Fixpunkt. Der Winkel betrug 2,5° nach rechts und 1° nach links. Dabei hatten die Testpersonen eine Anzahl von 10 Buchstaben normal erkannt. Die Untersuchungen wurden mit englischsprachigem Text und englischsprachigen Versuchspersonen durchgeführt.
Aus diesen Erkenntnissen ergaben sich bestimmte Richtlinien für die typographischen Eigenschaften von Texten, die im nächsten Abschnitt beschrieben werden.

Welche Faktoren der Textdarbietung beeinflussen uns beim Lesen?


Wie in der Einleitung bereits erwähnt wurde, haben typographische Faktoren wie Schrifttyp, Buchstabengröße, Zeilenlänge, Zeilenabstand, Buchstabenabstand und andere Textmerkmale Einfluss auf die Lesbarkeit eines Textes. Die Einhaltung der hier erwähnten typographischen Richtlinien gelten auch für Texte am Bildschirm.
In Bezug auf die Schriftart hat sich herausgestellt, dass die Serifenschriften im Vergleich zu serifenlosen Schrifttypen überlegen sind. Durch die Serifen "entstehen prägnantere Buchstaben- und Wortgestalten (...), was die Erkennbarkeit der Buchstaben und Wörter erleichtert" (vgl. Ziefle, Martina: Lesen am Bildschirm, Seite 22).
In Bezug auf die Buchstabengröße ist der Abstand zwischen Monitor und Auge entscheidend. In diesem Text wird von einem Abstand von 40-45cm ausgegangen (vgl. Bassak, Gill: As Fine as the Eye Can See, http://domino.research.ibm.com/comm/wwwr_thinkresearch.nsf/pages/fine498.html, 1999). Bei diesem Sichtabstand ist eine Schriftgröße von 10 Punkten (3.55 mm) zu empfehlen, da hier beim Lesen weniger und kürzere Fixationen nötig seien als bei kleineren oder größeren Schriftarten (vgl. Ziefle, Martina: Lesen am Bildschirm, Seite 22).
Die Vergrößerung der Zeilenlänge bewirkt, dass der Zeilenanfang der neuen Zeile schwerer zu lokalisieren ist. Tinker empfahl für eine Schriftgröße von 10 Punkten eine Zeilenlänge von 14 Pica (6.3cm) und einen Zeilenabstand zwischen 0.4 und 1.5 mm ( Tinker, M.: Legibility of print, Iowa State University Press, 1963). "Eine zusätzliche Vertikaltrennung von 2 Punkten (0.8mm) erhöhte die Lesbarkeit aller Schriftarten." (Ziefle, Martina: Lesen am Bildschirm, Seite 23).
Bei der Variation des Buchstabenabstands gibt es bei verschiedenen Leseaufgaben verschiedene Ergebnisse. Bei kleinerem Buchstabenabstand ergaben sich kürzere Lesezeiten. Wenn in einem Text Buchstaben und Wörter gefunden werden sollen sei ein b r e i t e r e r B u c h s t a b e n a b s t a n d von Vorteil. Beim Tablet-PC ist die Schriftgrößer variabel und könnte so der Leseintention entsprechend eingestellt werden (siehe Ende Abschnitt: "Was ist Lesen?").
Besondere Textmerkmale wie Kursivschreibweise, GROßBUCHSTABEN oder Fettdruck verringern die Lesbarkeit.

Was ist der Unterschied zwischen Buch und Bildschirm?


Obwohl immer wieder technische Neuerungen wie zum Beispiel der Röntgen-Flachbildschirm von IBM entwickelt werden, kann noch kein Flachbildschirm mit dem Kontrast und der Schärfe des Drucks mithalten. Sowohl der Leuchtdichtekontrast zwischen einem Zeichen und seinem Hintergrund als auch die Bildauflösung (70-120 dpi bei Bildschirmen und 2000dpi bei gedrucktem Text) ist bei Papier höher (Ziefle, Martina: Lesen am Bildschirm, Seite 56-59). Der Hauptgrund für die Unterlegenheit des Bildschirms gegenüber dem Buch liegt aber vor allem daran, dass auf dem Bildschirm der Text von sich aus leuchtet. Dadurch ist der Bildschirm viel anfälliger für Störungen von externen Lichtquellen. Alle, die schon mal draußen in der Sonne am Notebook gearbeitet haben, können dies nachvollziehen. Für das Lesen am Bildschirm benötigt man eine eher dunkle Umgebung. Zwar wurde mit der Erfindung des Flachbildschirms das ermüdende Flimmern eliminiert, jedoch ergaben sich neue Probleme. So ist das Bild nur aus einem bestimmten Winkel sichtbar. Ein anderes Problem ist die Robustheit und die Anfälligkeit für Stöße der Flachbildschirme. Während man ein Buch problemlos transportieren kann, hält ein Flachbildschirm nicht einmal leichtere Stöße etwa beim Fahrradfahren oder beim Fall aus niedriger Höhe aus.
Diese technischen Mängel müssten erst behoben werden, um dem Leser des elektronischen Buchs den selben Komfort zu bieten, wie er es vom Buch aus Papier gewohnt ist.

Zusammenfassung

Die Erfindung des Tablet-PC stellt eine Revolution im Umgang mit geschriebenen Medien dar. Der sofortige Zugriff auf jedes Buch, Zeitschrift oder sonstige Texte von Zuhause aus ist ein erstrebenswertes Ziel. Bei Einhaltung der typographischen Richtlinien, die auch beim Druck gelten, lassen sich visuelle Faktoren für die Verschlechterung der Lesbarkeit ausschließen. Trotzdem hat sich die dafür notwendige Technik bisher nicht als ausreichend herausgestellt. Allein im optischen Bereich steht der Flachbildschirm dem Buch noch in den Punkten Robustheit, Bildauflösung und Leutdichtekontrast nach. Trotzdem scheint sich die Digitalisierung von Druckerzeugnissen nicht mehr aufhalten zu lassen. Das Onlinekaufhaus Amazon hat nun 120 000 der verkäuflichen Bücher in digitaler Form bereitgestellt. Ziel von Amazon ist es allerdings nicht, das Papier-Buch zu ersetzen, sondern eine erweiterte Suchfunktion "Search inside the book" zu bieten, die das Suchen in Büchern direkt bietet (BörseGo : Amazon startet "Search Inside the Book", 2003). Solche Ansätze zeigen jedoch, dass daran gearbeitet wird, einen Großteil der Bücher in digitaler Form zugänglich zu machen, so dass sie auch für digitale Bücher genutzt werden können. So wie die Schallplatten aus Vinyl von der CD ersetzt wurden, wird das Papierbuch vom ebook ersetzt werden.

Literaturverzeichnis

Mitchell, D.C.: The Process of Reading, John Wiley & Sons Ltd., 1982
Ziefle, Martina: Lesen am Bildschirm, Waxmann Verlag GmbH, Münster, 2002
McConkie, G. W.,
Rayner, K.: the span of the effective stimulus during a fixation in reading, Perception and Psychopysics, 1975
Tinker, M.: Legibility of print, Iowa State University Press, 1963

Onlineverzeichnis

Delbrouck, Dirk: Studie: Tablet PCs und Smart Displays helfen PC-Markt, www.zdnet.de/news/hardware/0,39023109,2133408,00.htm, 2003
Bundesregierung: Gut in der Ausbildung, www.bundesregierung.de/Themen-A-Z/Bildung-und-Ausbildung-,8859/Gut-in-der-Ausbildung.htm, 2003
Bassak, Gill: As Fine as the Eye Can See, domino.research.ibm.com/comm/wwwr_thinkresearch.nsf/pages/fine498.html, 1999
BörseGo : Amazon startet "Search Inside the Book", www.finanznachrichten.de/nachrichten/artikel-2639024.asp, 2003