Buch versus Byte

Moritz Menzel

Einleitung

Der Computer ist heute kaum noch aus unserem Leben wegzudenken. In fast allen Bereichen regt er Veränderungen in unseren täglichen Gewohnheiten an. Mit dem Siegeszug des Internets, insbesondere des World Wide Web, wird dieser Einfluss noch größer. Gerade zehn Jahre alt, hat sich das WWW mittlerweile bis in unsere Wohnzimmer ausgebreitet. Die unfassbare Informationsfülle im Internet gleicht einem Abbild des Wissens der Menschheit. Offen und unkompliziert für fast jedermann zugänglich ist es der Motor des Informationszeitalters.
Noch vor wenigen Jahren klang all das wie ein Traum. Doch neben den begeisterten Visionären gab es von Anfang an auch Kritiker. Das Internet werde Zeitschriften verdrängen, am Bildschirm gelesener Text werde dem Buch die Daseinsberechtigung streitig machen. Diese Bedenken waren sicher nicht unberechtigt, doch ein Jahrzehnt später haben sie sich doch als zu pessimistisch herausgestellt. Die Verbreitung von Computern und Internet in den Haushalten der Industrieländer mag eine Veränderung der Lesegewohnheiten nach sich gezogen haben, aber von einer Verdrängung etablierter Medien wie Zeitungen und Bücher kann keine Rede sein. Doch woran liegt das – was sind die Unterschiede zwischen dem neuen Medium und dem bewährten gedruckten Wort, und taugt der Bildschirm überhaupt als Lesevorlage?

Lesen am Bildschirm

Aus den naheliegenden Unterschieden beider Medien – Computer und Papier – ergeben sich bereits viele Vor- und Nachteile im praktischen Gebrauch. Je nach Situation mag der Leser zum Beispiel die Volltext-Suche im digitalen Medium oder der Möglichkeit des einfachen Anstreichens von wichtigen Textpassagen auf Papier schätzen und aus diesem Grund das eine oder andere Medium bevorzugen. Um die genauen Lesegewohnheiten von Bildschirm-Lesern etwas allgemeiner besser zu verstehen, haben sich in den letzten Jahren viele Projekte intensiv mit diesem relativ neuen Bereich beschäftigt. Dabei wurden viele deutliche Unterschiede zur herkömmlichen Print-Lektüre ausgemacht.

Ein Team der Stanford University und des Poynter Institutes hat in der Studie „Eyetrack2000“ versucht, mehr über die Bildschirm-Lesegewohnheiten herauszufinden, indem es die Augenbewegungen von 67 Versuchpersonen beim Lesen am Monitor („Eyetracking“) beobachtete. Es sollte unter anderem erforscht werden, wo Besucher einer Internet-Seite tatsächlich zuerst hinsehen, wie lange die Blicke auf Texten und Bildern verweilen und wann ihre Aufmerksamkeit nachlässt. Auch wenn man aufgrund der geringen Anzahl an Beteiligten keine allgemeingültige Schlüsse aus der Untersuchung ziehen kann, kam das Forscher-Team doch zu sehr interessanten und zum Teil auch unerwarteten Ergebnissen. So wandern die Blicke nach dem Aufbau einer Seite meist direkt zum Text. Als erstes schienen den Versuchspersonen Zitate und kurze Absätze ins Auge zu springen, erst im Anschluss fixierten sie Bilder und Grafiken. Außerdem glich das Lesen vieler Texte einem Überfliegen oder ‚Scannen’. Zunächst schienen sich die Beteiligten einen Überblick zu verschaffen, bevor sie dann ihre volle Aufmerksamkeit investierten oder zu einem anderen Artikel sprangen. In der ersten Phase der Studie wurden die meisten Versuchspersonen als ‚News-Junkies’ bezeichnet. Neben der täglichen Dosis an Online-News konsumierten sie auch Zeitungen und Magazine und hörten Nachrichten im Radio. Beim zweiten Schwung Tests, zwei Jahre später, schien auf weniger Personen die Bezeichnung ‚News-Junkie’ zu passen. Wenige sahen viel Nachrichten im Fernsehen oder hatten eine Tageszeitung abonniert. Die Forscher betonen in ihrer Untersuchung allerdings, dass wenige Beteiligte ihre Abonnements kündigten, nachdem sie mit der Lektüre von Online-News begannen, so dass man auf eine Verdrängung der Zeitungen durch das Internet schließen könnte. Vielmehr hatten die meisten ihre Zeitungen bereits früher abbestellt und wurden durch Online-News wieder zurück zum regelmäßigen Nachrichten-Konsum gebracht.
Die Lesegewohnheiten von Internet-Nutzern sind natürlich besonders für die Designer und Autoren von WWW-Seiten interessant. So werden auf http://www.webwriting.ch/ die Ergebnisse von verschiedenen Studien zusammengetragen, um auf die speziellen Anforderungen der Bildschirm-Leser zu schließen. Hier wird besonders betont, „dass Online-LeserInnen Seiten ‚scannen’. Sie überfliegen Titel, Bilder und Begriffe, bevor sie ihre volle Aufmerksamkeit investieren“. Dieses Verhalten ist sicher vielen Internet-Nutzern bekannt und bewusst. Nach dem erwähnten Artikel dauert außerdem das Lesen am Bildschirm allgemein „24 bis 40 Prozent länger als auf Papier“. Besonders entscheidend ist daher eine klare Struktur der Seite durch Absätze, Zwischentitel und Einrückungen, um den Leser trotz der offenbar recht kurzen Aufmerksamkeitsspanne interessiert zu halten.
Eine weitere Studie, durchgeführt von der Ohio State University, kommt zu dem Schluss, dass derselbe Text online „schwieriger zu verstehen und weniger glaubwürdig“ ist als in Print. Für das Lesen am Bildschirm gelten also offensichtlich eigene Regeln. Ein Text, sei es reine Information oder eine Erzählung, kann nicht einfach direkt vom Papier auf den Bildschirm gehoben werden ohne seine Wirkung oder seinen Reiz auf den Leser zu ändern.

E-Books

Neben der Konkurrenz zwischen der Zeitung und dem Internet als Informations-Medium sehen viele den Computer auch als Bedrohung für das Medium Buch. Es soll hier nicht darum gehen, inwieweit Computeranwendungen den Büchern ihren angestammten Platz in der Freizeitgestaltung der Informationsgesellschaft streitig machen. Trotz der revolutionären technischen Errungenschaften der letzten Jahre wird noch immer viel gelesen, und Romane und Erzählungen stehen glücklicherweise nach wie vor hoch in der Gunst unserer Gesellschaft. Doch mit den vielen Vorteilen eines digitalen Mediums gegenüber dem Papier ist die Frage berechtigt, ob der Computer eine Chance hat, an die Stelle des Buches als Träger von Texten zu treten. Die Idee eines elektronischen Buches, eines kleinen Computers also, den man mit verschiedenen Texten speisen kann, um sie auf einem Bildschirm zu lesen, ist nicht neu. In vielen Science-Fiction-Filmen wird schon seit Jahren die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass es bald kaum noch Papier geben wird. Der Mensch würde sich daran gewöhnen, auch Romane auf dem Bildschirm zu lesen. In den letzten Jahren gab es einige Entwicklungen in diese Richtung, doch bisher kann man nicht davon sprechen, dass eine Evolution von Papier zu Monitor im Gange ist.
Im Internet gibt es riesige Datenbanken, Textsammlungen (zum Beispiel die gesammelten Werke Shakespeare’s) und Nachschlagewerke, doch bislang scheint der Mensch in den meisten Bereichen nach wie vor das gedruckte Wort zu bevorzugen oder zumindest nicht darauf verzichten zu wollen. Nachrichten des Tages lesen die meisten nach wie vor beim Frühstück in der Zeitung oder am Abend im Fernsehen. Und das Buch als Träger von Text ist nach wie vor das Maß aller Dinge, wenn es um Literatur geht. So haben vor einigen Jahren verschiedene Unternehmen versucht, sogenannte E-Books einzuführen. Der erhoffte Erfolg blieb bislang jedoch aus.

Das zunächst groß angekündigte „Rocket-Book, das erste E-Book für den deutschen Markt", ist gefloppt. Obwohl man in so einem Gerät leicht 50 ‚Bücher’ mit sich herumtragen könnte, wenn auch zu einem stolzen Preis, übt Literatur am Bildschirm auf den Menschen offensichtlich keinen sehr großen Reiz aus.

Eine bessere Chance haben elektronische Bücher als kleiner Bonus für die mittlerweile weit verbreiteten PDAs Im Internet gibt es mittlerweile eine riesige Auswahl an Büchern im Text- oder PDF-Format, das von den meisten PDAs gelesen werden kann. Dass diese Lese-Variante dem Buch den Rang ablaufen wird, ist allerdings mehr als fraglich.

Zusammenfassung: Die Zukunft des Papiers

Aus den Erkenntnissen der letzten Jahre können wir schließen, dass der Mensch das Lesen am Bildschirm sehr anders empfindet als die Lektüre eines Textes auf Papier. Geht es um Informationen, vertraut man der Zeitung eher als der Internet-Seite, und offenbar ist ein Text auf dem Bildschirm auch schwerer verständlich als in gedruckter Form. In bestimmten Situationen ist der Computer als Medium dem gedruckten Wort weit voraus, und trotzdem sieht es nicht so aus als würde der Bildschirm Buch oder Zeitung ablösen. Vielmehr müssen Computer und Internet als neue, ergänzende Medien verstanden werden. Hier gelten völlig neue Regeln, nach denen sich ein Designer genauso richten muss wie ein Autor, der seinen Text online veröffentlichen will. Die direkte Übertragung von Print auf Bildschirm scheint nur in den wenigsten Fällen zu funktionieren. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass gerade beim Medium Buch, bei dem das Layout keine so große Rolle spielt wie bei Zeitschriften, die digitale Variante keine ernste Gefahr für das Papier darstellt. Doch vielleicht haben die eingangs erwähnten Pessimisten und Kritiker des digitalen Mediums nur die Bereitschaft des Menschen überschätzt, eine gravierende Veränderung im täglichen Leben zu akzeptieren. Vielleicht wird sich der Mensch langsam an den Bildschirm als Papier-Ersatz gewöhnen, und es erwartet uns eine Zukunft, in der Bücher nicht mehr in Bibliotheken, sondern in Museen ausgestellt werden. Doch zumindest ist es fraglich, ob wir das noch erleben werden.
(mom)


Literatur-/Online-Verzeichnis

http://www.webwriting-magazin.de/webwriting/blmain.htm
http://www.webwriting.ch/schreib/screenles.html
http://the-tech.mit.edu/Shakespeare/works.html
http://www.proasyl.de/texte/hl/internet/referat.htm
http://www.iuk.hdm-stuttgart.de/nohr/publ/BUCOMBIB.pdf

Stanford-Poynter-Studie:
http://www.poynterextra.org/et/i.htm
http://www.onlinejournalismus.de/forschung/eyetrack_studie.php
http://www.javajim.de/theorietank/usability/eyetrack.html

Rocket-Book:
http://www.3sat.de/nano/tipps/07597/
http://www.gemstar-ebook.com/de/
http://www.rocket-book.com/