Lesen im Cyperspace - Bildschirm gegen Mensch
von: Markus Haarländer
1. Einleitung
Wer kennt das nicht? Man recherchiert im Internet nach
Informationen, bekommt einige tausend Links zurück, geht auf die Webseiten oder
PDFs, liest und liest, und nach einiger Zeit hat man nur noch ein Flimmern vor
den Augen. Bei dem neuen Roman hingegen können die Stunden nur so vergehen, und
das ohne größere Probleme zu haben. Dieser Aufsatz soll den Lesevorgang des
Menschen auf Papier und Bildschirm und deren Unterschiede aufzeigen. Im ersten
Teil geht es um das Lesen aus physischer und psychischer Sicht. Danach wird
gezeigt wie der Mensch am Bildschirm und vor allem im WWW liest. Schließlich
werden einem Möglichkeiten gegeben, wie die Lesbarkeit von WWW-Inhalten
verbessert und auf den Menschen zugeschnitten werden können. Zum Ende noch ein
kurzer Abschnitt zu PDF-Dokumenten.
2. Der Lesevorgang des Menschen aus physischer und psychischer Sicht
Das Lesen eines Textes von einem geübten Leser ist kein kontinuierlicher
Prozess des Auges, sondern eine Abfolge von Fixationen und schnellen Sprüngen,
sog. Sakkaden. Während der Fixationsphase, die ca. 250 ms dauert, ruht das Auge
und es werden 5 bis 9 Buchstaben erfasst und verarbeitet. Darauf folgt eine ca.
30 ms dauernde progressive Sakkade zum nächsten Fixationspunkt, der etwa 9
Buchstaben weiter rechts liegt. Während der Sakkade werden keine neuen
Informationen (Buchstaben) aufgenommen. Es können auch Rückwärtssprünge
(regressive Sakkaden) auftreten, z.B. beim Zeilenrücksprung, falls der gerade
gelesene Teil des Textes nicht verstanden oder falls ein zu großer Sprung
gemacht wurde. Verantwortlich für diesen Ablauf ist die ortsabhängige Auflösung
des Auges. Es existiert nur ein sehr kleiner Bereich von ca. 5 Grad (fovealer
und parafovealer Bereich) mit einer genügend hohen Auflösung zum Erkennen von
Buchstaben. Der Rest des Blickfeldes (160 Grad) dient eher zum Nachsteuern des
Auges. (vgl. Kurt 2000)
Neben dem reinen Erkennen von Buchstaben spielen natürlich auch weitere
psychologische Aspekte beim Lesen eine große Rolle: Bereits bekannte Wörter oder
Wortteile werden als Bilder gespeichert und können somit schneller identifiziert
werden als unbekannte. Kurze Funktionsworte wie Artikel oder Pronomen werden
teilweise überhaupt nicht fixiert, sondern ergeben sich aus dem Zusammenhang und
dem sehr unscharfen Bild, welches das Auge im Seitenbereich aufgenommen hat. So
können in derselben Zeitspanne z.B. nur vier einzelne Buchstaben oder aber zwei
ganze Wörter erkannt werden (Wortüberlegenheitseffekt). (vgl. Kurt 2000, Hußmann
2002) In diesem Zusammenspiel von Fixationen, Sprüngen und psycholinguistischen
Aspekten tritt der einzelne Buchstabe in den Hintergrund, so dass erstaunliche
Effekte beim Lesen auftreten können: Gmäeß eneir Sutide eneir elgnihcesn
Uvinisterät ist es nmälich nchit witihcg in wlecehr Rneflogheie die Bstachuebn
in eneim Wrot snid, das ezniige was wcthiig ist, ist dass der estre und der
leztte Bstabchue an der ritihcegn Pstoiion snid.
3. Lesen im WWW
Wer schon einmal versucht hat am Bildschirm eine größere
Menge von Text zu lesen kennt die Probleme: Nach relativ kurzer Zeit ermüden die
Augen, das dauernde Scrollen bringt den Lesefluss völlig aus dem Gleichgewicht
und irgendwann greift man bei längeren Texten dann doch lieber zum Drucker. In
wissenschaftlichen Studien wurde bereits mehrfach bewiesen dass Lesen am
Bildschirm ca. 25% langsamer vor sich geht als auf Papier und zudem ermüdender
ist. Im WWW zeigen sich diese Eigenschaften des Bildschirm-Lesens besonders
deutlich: Laut einer Eyetracking-Studie von Jakob Nielsen und John Morkes, bei
der Augenbewegungen von Web-Usern gemessen wurden, lesen nur 16 Prozent eine
Web-Seite Wort für Wort, 79 Prozent dagegen „scannen“ die Seite lediglich nach
bestimmten Wörtern oder Sätzen. Neben den bereits genannten Gründen spielen hier
aber auch eine spezielle Erwartungshaltung des Users und die besondere Struktur
des WWW eine wichtige Rolle. Der User verlangt im Web nach schnellen, konkreten
Informationen. Er besitzt eine (beschränkt) aktive Rolle, die er nutzen will.
Deshalb klickt er lieber weiter zum nächsten Link anstatt einen ganzen Artikel
zu lesen und damit das Gefühl zu haben unproduktiv zu sein. Der User weiß
anfangs normalerweise auch noch nicht ob die gewählte Seite die gewünschte
Information überhaupt bereit hält. Daher ist ein Überblick nötig. (vgl. Nielsen
1997[2])
3.1 Richtlinien für Texte auf WWW-Seiten
Diese Eigenschaften des WWW
haben natürlich Konsequenzen für die Autoren und Designer von Webseiten. Um den
User gute Lesbarkeit zu gewähren und auf seine Bedürfnisse einzugehen müssen
Webseiten scanbaren Text enthalten. Sowohl das Layout als auch der Textinhalt
selbst müssen für das Web ausgerichtet sein. Jacob Nielsen schlägt hierfür z.B.
die Verwendung von hervorgehobenen Wörtern, bedeutungsvollen und klaren
Überschriften sowie Listen mit Aufzählungszeichen vor. Die Sätze sollten kurz
und konzise formuliert gehalten werden, ein Absatz sollte jeweils nur ein
Themenpunkt behandeln. Ausserdem sollte der gesamte Text nur die halbe Anzahl
von Worten enthalten, die man beim Schreiben edesselben Textes für eine
konventionelle Zeitung oder ein Magazin verwendet hätte. (vgl. Nielsen 1997[1],
Zbinden et al. 1998)
Ein weiterer Vorschlag Nielsens ist der „umgekehrte
Pyramidenstil“, der z.B. auch in Tageszeitungen verwendet wird. Der Text beginnt
mit dem eigentlichen Schluss, welcher die wichtigsten Informationen knapp
zusammenfasst. Darauf folgt eine detailreichere Präsentation der wichtigen
Informationen. Hintergründe und weiterführende Informationen kommen erst zum
Ende. Somit ist gewährleistet dass der Rezipient auf jeden Fall die wichtigsten
Informationen mitbekommt, auch wenn er den Artikel nicht zu Ende liest. (vgl.
Nielsen 1996)
3.2 Richtlinien für PDF-Dateien
Während einer Recherche im WWW stößt man
sehr oft auf die weit verbreiteten PDF-Dokumente, welche man meist auch direkt
am Bildschirm lesen will, um zumindest einen Überblick über den Inhalt zu
bekommen. Ist schon das Lesen im WWW ein Sonderfall (s.o.), so sinkt die
Lesbarkeit eines PDF am Bildschirm nochmals rapide ab. „Forcing Users to browse
PDF documents make your website’s usability about 300 percent worse relative to
HTML-pages.”(Nielsen 2001). PDF wurde entwickelt um druckbare Dokumente zu
verbreiten, und ist deshalb für Standardpapier-Seitengrößen optimiert und nicht
für Bildschirme. Auf dem Monitor kann man meist nur einen kleinen Abschnitt des
Dokuments betrachten, da man für eine lesbare Schriftgröße zoomen muss. Es gibt
im Vergleich zu einer Webseite nur schlechte Navigationsmöglichkeiten. Außerdem
verstoßen PDFs meist gegen alle Richtlinien für Lesen am Bildschirm, da sie ja
auch zum Ausdruck gedacht sind. PDF-Dateien sollten von Anbietern also wirklich
nur zum downloaden und ausdrucken angeboten werden. Ausserdem sollte zu jedem
Dokument eine kurze Zusammenfassung in HTML angeboten werden. Der User soll
wissen um was für ein Dokument es sich handelt ohne das PDF öffnen und scannen
zu müssen. (vgl. Nielsen 2001)
4. Zusammenfassung
Das Lesen des Menschen ist ein komplizierter Prozess
bei dem viele physische und psychische Faktoren zusammenspielen. Lesen in einem
Buch oder einer Zeitung, also auf Papier, ist komfortabler und weniger
anstrengend als Lesen am Bildschirm. Deshalb verhält sich der Mensch je nach
Medium auch verschieden. Während z.B. Inhalte aus dem WWW meist nur überflogen
werden, werden papierbasierte Medien viel genauer aufgenommen. Das hat Folgen
für die Gestaltung von Text. Webseiten müssen auf die Leseart des Menschen
zugeschnitten werden, um ihm die Informationsaufnahme zu erleichtern. Es ist
einfach unangenehm und auch ungesund längere Texte am Monitor zu lesen.
Vielleicht bringt ja die Zukunft mit neuen Arten von Darstellungsmöglichkeiten
(Stichwort Elektronisches Papier) Abhilfe in diesen Bereich. Bücher und
Zeitungen aus normalen Papier werden uns aber wohl (zum Glück) noch sehr lange
erhalten bleiben.
Quellenverzeichnis:
Hußmann, Prof. Dr. Heinrich (2003). Digitale Medien - Skript zur
Vorlesung. Online im Internet: http://www.medien.informatik.uni-muenchen.de/de/lehre/dm/vorlesung/dm3a.pdf
(Stand: 01.03.2003)
Kurt, Prof. Dr. J. (2000). Zur Rolle der Blicksteuerung bei
Lesestörungen. Online im Internet: http://www2.hu-berlin.de/reha/eye/Studie2000/lesen1.pdf
(Stand: 12.12.2003)
Nielsen, Jakob (1996). Inverted Pyramids in Cyberspace. Online im
Internet: http://www.useit.com/alertbox/9606.html
(Stand: 12.12.2003)
Nielsen, Jakob (1997)[1]. How Users Read on the Web. Online im
Internet: http://www.useit.com/alertbox/9710a.html
(Stand: 11.12.2003)
Nielsen, Jakob (1997)[2]. Why Web Users Scan Instead of Read. Online
im Internet: http://www.useit.com/alertbox/whyscanning.html
(Stand: 11.12.2003)
Nielsen, Jakob (2001). Avoid PDF for On-Screen Reading. Online im
Internet: http://www.useit.com/alertbox/20010610.html
(Stand: 12.12.2003)
Zbinden, Sophie & Brunner, Nadja & Roethlisberger, Michael (1998).
Das Internet ist kein Buch: Schreiben für das Internet. Online im
Internet: http://visor.unibe.ch/media/summer98/2505b.htm
(Stand: 12.12.2003)