Physiologische und kognitive Grundlagen des Lesens und ergonomische Kriterien
zur Darstellung von Texten auf Computerbildschirmen
Julius Benkert
1. Einleitung
Untersuchungen der Augenbewegungen wurden bereits im 19. Jahrhundert durchgeführt,
siehe Donders "Beitrag zur Lehre von den Bewegungen des menschlichen
Auges" im Jahre 1847 und "Die Bewegung des menschlichen Augapfels" von
Fick 1854. Mit der Entwicklung der sogenannten EyeTracking-Systeme ab 1970
wurde es auch möglich, die Augenbewegungen während des Lesevorgangs
detailliert aufzuzeichnen. In den letzten Jahrzehnten gewinnt auch das Lesen
am Computer zunehmend an Bedeutung, bei der Gestaltung der Texte werden jedoch
besonders im Internet oft ergonomische Kriterien eher vernachlässigt.
Bevor die Grundlagen ergonomischen Designs näher erläutert werden,
will ich zunächst aber näher auf die biologischen und kognitiven
Grundlagen des Lesens eingehen.
2.1 Physiologische Grundlagen
Das Auge besitzt Zonen mit verschiedenen Auflösungen und Farbempfindlichkeiten.
Bei der Betrachtung einer durchschnittlich langen Textzeile in normalem Abstand
nimmt die Zeile etwa 20 Grad des Blickfeldes ein. Die fovea centralis, eine
Region mit sehr hoher Auflösung, umfasst gerade einmal ca. zwei Grad des
Blickfeldes (2-4 Buchstaben). Sie wird umgeben vom parafovealen Bereich mit
etwa 30% geringerer Auflösung. Er nimmt etwa fünf Grad des Blickfeldes
einnimmt (5-10 Buchstaben) und dient primär zur Nachsteuerung der Blickrichtung.
Die Bereiche abseits der eben erwähnten sind relativ niedrigauflösend
und zum flüssigen Lesen eher ungeeignet. Wird beim Lesen das Zielgebiet
nicht optimal getroffen kann die Abweichung in der darauffolgenden Fixation
durch eine Korrektur von bis zu 0,2° erfolgen, einem sogenannten Drift.
Durch die beschriebene Reduzierung des hochauflösenden Bereichs wird die
Datenmenge, die das Gehirn verarbeiten muss, stark reduziert, andererseits
müssen die Augäpfel für den Lesevorgang häufig neu positioniert
werden. Daraus ergibt sich der Lesevorgang als stete Abfolge von sprunghaften
Bewegungen, sogenannten Sakkaden, und Fixationen, d.h. kurzen Phasen relativer
Bewegungslosigkeit des Auges, in denen der fixierte Text hauptsächlich
mit dem fovealen Bereich wahrgenommen wird. Mit zunehmender Übung des
Lesenden verkürzt sich die Dauer der Fixationen und die Weite der Sakkaden
steigt.
Sakkaden finden hauptsächlich in Schreibrichtung statt (>80%), bei
Verständnisproblemen können aber auch Rücksprünge auftreten,
die Genauigkeit des Rücksprungs hängt dabei von der Routiniertheit
des Lesers ab.
Pro Fixation werden im Mittel 5-9 Buchstaben erfasst, der Einfluss der Buchstabengröße
und des Abstands des Auges zum Text ist dabei eher gering. Geübte Leser
fixieren nicht alle Worte gleichermaßen, speziell Funktionsworte werden
nur zu etwa einem Drittel fixiert, Inhaltsworte weisen hingegen eine Quote
von etwa 85% auf. Dieses Phänomen ist hauptsächlich über die
Wortlänge zu erklären, da Funktionsworte (der, die, im, am etc.)
meist sehr kurz sind und daher nicht explizit fixiert werden müssen.
Als Fixationspunkte dienen meist auffällige Stellen im Text wie z.B. Großbuchstaben
oder Bilder. Die Ausrichtung der Augen erfolgt dabei ohne entsprechendes Training
unwillkürlich mit entsprechenden Ablenkungen zu den auffälligen Merkmalen.
Das zuverlässige Ignorieren entsprechender Reize setzt ein entsprechendes
Training voraus.
2.2 Kognitive Aspekte des Lesens
Die Entwicklung des Lesens bei Kindern erfolgt dreistufig: In der logographischen
Stufe werden Wörter mehr als Zeichnungen wahrgenommen und anhand besonderer
Merkmale erkannt. In der alphabetischen Stufe wird den Kindern der Zusammenhang
zwischen Wort- und Lautsprache klar, das Lesen erfolgt zunehmend anhand von
Graphemen, also den aus der Sprache bekannten elementaren Zeichen und Zeichenfolgen.
Zuletzt erfolgt der Übergang zur orthographischen Stufe. Die Kinder greifen
auf bereits erworbenes Wissen zurück und lesen kürzere Worte in einem
Zug. Bei schwierigeren Wörtern kann ein Rückfall zur alphabetischen
Stufe erfolgen.
Der Lesevorgang ist nur durch eine Kombination verschiedener Fähigkeiten
möglich: Der Leser muss die Wörter mit bekannten Schreibmustern abgleichen,
Wortsegmente ausgliedern oder kombinieren, Vorinformationen zwecks rascher
Worterkennung verwerfen, vorauseilend dekodieren, die Satzgestalt identifizieren
und Sinnschritte konstruieren mit anschließender Kombination zur Erkennung
des Sinnes des Gesamtsatzes. Diese Schritte laufen nichtlinear ab und sind
in ihrer Abfolge von Leser zu Leser unterschiedlich, genaue Aussagen hierüber
sind jedoch aufgrund der mangelnden Erforschung des Gehirns nach wie vor kaum
möglich.
Neben den unterschiedlichen möglichen Abläufen kann zudem auf unterschiede
Weisen gelesen werden: Mögliche Trennungen sind hierbei Grapheme, Signalgruppen,
Silben, Morpheme (kleinste inhalttragende Einheit), ebenso bietet sich auch
eine Orientierung an semantischer und grammatikalischer Redundanz an.
Der Lesevorgang ist derzeit wie bereits erwähnt noch nicht vollständig
erforscht, speziell die genauen Vorgänge und deren Abfolge im Gehirn sind
nach wie vor größtenteils ungeklärt. Erschwerend kommt hinzu,
dass individuelle Fähigkeiten bzw. Defizite die Aussagekraft der jeweilig
gewonnen Daten reduzieren.
2.3 Richtlinien zur ergonomischen Gestaltung von Online-Texten
Da ohne entsprechendes Training Ablenkungen meist zur Fixierung der Ablenkung
führen, ist bereits aus den kognitiven Grundlagen ersichtlich, dass zur
optimalen Lesbarkeit auf die Verwendung von aktiven Inhalten verzichtet werden
sollte oder diese zumindest während der Lesephase nicht aktiv sein und
sich nur auf Anforderung verändern sollten. In der Nähe des Textes
befindliche Animationen können ein ständiges unterbewusstes Unterbrechen
des Lesevorgangs bewirken. Dies schließt ebenfalls blinkenden oder sich
anderweitig verändernden Text ein, steht die Vermittlung des Inhalts im
Vordergrund sollte also auch hierauf verzichtet werden.
Ebenso ist eine schlechte Wahl der verwendeten Vorder- und Hintergrundfarben
mit einem daraus resultierenden geringen Kontrast negativ für die erreichbaren
Lesegeschwindigkeiten. Die Sakkaden werden zwar den Bedingungen angepasst durch
eine genauere Positionierung des Auges, ihre Größe nimmt allerdings
ab und die Dauer der Fixationen steigt. Dies führt zu einer niedrigeren
Lesegeschwindigkeit sowie zu einer insgesamt höheren Anstrengung.
Aus Studien der Wichita State University geht hervor, dass Zeilenlängen
zwar für die Lesegeschwindigkeit eher unerheblich sind, die maximalen
Zeilenlängen aber wegen abnehmender Akzeptanz nicht ausgereizt werden
sollten. Für Erwachsene werden Zeilenlängen von 65-75 Zeichen empfohlen,
bei Kindern ca. 45 Zeichen pro Zeile. In einer schon etwas älteren Studie
von Kolers, Duchnicky und Ferguson (1981) wurde festgestellt, dass Zeilen mit
40 Zeichen im Vergleich zu 80 Zeichen pro Zeile den Lesevorgang verlängern.
Die Ergebnisse sind zwar aufgrund der damals erheblich schlechteren Anzeigegeräte
nicht mehr ganz repräsentativ, die Tendenz zur Zeilenbreite um die 70
Zeichen war jedoch schon damals erkennbar.
Die Größe der Zwischenräume hat ebenfalls kaum nachweisbare
Auswirkungen auf die Leseleistung. Lediglich derart geringe Abstände,
dass die klare Trennung der Zeilen verloren geht, führen zu einer verminderten
Lesbarkeit.
Ein weiterer Punkt ist die Wahl der Schriftart. Schriften unterscheiden sich
durch eine Vielzahl von Eigenschaften, eine generelle Aussage über die
Vor- oder Nachteile des einen oder anderen Merkmals einer Schrift ist demnach
kaum möglich, eine vergleichende Untersuchung von normalen und kursiven
Schriften zeigte jedoch, dass kursive Schriften langsamer gelesen werden, mit
steigender Schriftgröße gleichen sich die Ergebnisse allerdings
an.
Interessant für die Strukturierung der dargebotenen Inhalte ist auch ein
weiteres Ergebnis der der Studie der Wichita State University: Sie hat gezeigt,
dass verlinkte Überschriften mit kurzen Zusammenfassungen des verlinkten
Dokuments gegenüber verlinkten Überschriften ohne Zusammenfassung
sowie dem klassischen linearen Format eindeutig bevorzugt werden und den zeitsparendesten
Zugang zur gewünschten Information auf der entsprechenden Unterseite bieten.
Dies verdeutlicht den wohl größten Vorteil der Präsentation
von Texten im Internet: Die hierarchische oder vernetzte Strukturierbarkeit
der Inhalte.
2.4 Vom Lesenden zu treffende ergonomische Vorkehrungen
Die geschilderten ergonomischen Richtlinien für die Gestaltung von Inhalten
sind jedoch keineswegs ein Garant für entspanntes Lesen am Computer. Der
Benutzer selbst muss durch einen geeigneten Aufbau seines Arbeitsplatzes dafür
Sorge tragen, die guten ergonomischen Voraussetzungen nicht wieder zunichte
zu machen. Einfachstes Beispiel hierfür ist die Einstellung einer geeigneten
Bildwiederholfrequenz. Bisher gilt ein Bild auf einem Röhrenmonitor ab
70 Hertz als flimmerfrei, Studien haben jedoch gezeigt, dass Anwender bei höheren
Bildwiederholraten Aufgaben schneller ausführen konnten. Alternativ dazu
bietet sich natürlich auch der Einsatz eines LC-Displays an, hier werden
die Bildpunkte anders als beim klassischen Monitor nur einmal aktiviert und
leuchten fortan konstant, eine Ermüdung durch Flimmern ist damit bereits
ausgeschlossen.
3. Zusammenfassung
Man kann bereits durch die Beachtung relativ weniger Grundsätze ergonomisch
korrekt Texte auf dem Monitor abbilden, einen entscheidenden Einfluss auf die
resultierende Ergonomie hat jedoch vor allem der Anwender bei der Auswahl und
Einstellung seines Anzeigemediums. Entsprechende Richtlinien zur korrekten
Auf- und Einstellung der Geräte finden sich in den Vorschriften zum Arbeitsschutz.
4. Online-Verzeichnis
- Gerd Schneider: "Zur Rolle der Blicksteuerung bei Lesestörungen",
HU-Berlin, http://www2.rz.hu-berlin.de/reha/eye/Studie2000/
- Frank Thissen: "Informationsdesign II, Usability/Interaktion",
http://www.frank-thissen.de/sdf_ergodef.htm
- David H. Parish, Gordon E. Legge: "Psychophysics of reading: IX. The
stability of eye position in normal and low vision”, http://gandalf.psych.umn.edu/~legge/read9.pdf
- Tim Comber: "The Importance Of Text Width And White Space”,
http://wattle.scu.edu.au/staff/tcomber/research/The_Importance_of_Text_Width_and_White_Space_for_Online_Documentation.pdf
- Robert A. Morris, Kathy Aquilante, Charles Bigelow, and Dean Yager: "Serifs
slow RSVP reading at very small sizes, but don’t matter at larger sizes", http://www.cs.umb.edu/~ram/rsvp/publications/SerifsSubmittedV2.doc